Kinderbücher mit mehr Horizont(en)!
BIPoC Realitäten, ausgehend von unseren eigenen Erlebniswelten, und zwar nicht nur amerikanischen und großstädtischen.
2011 hatte ich einen Aufruf gemacht. Inzwischen hat sich viel getan, aber nicht in jeder Hinsicht I-: , daher hier eine aktualisierte Version:
Es gibt immer noch viel zu wenige deutsche Kinderbücher, die Kids, die nicht weiß sind nicht exotisieren, ausblenden oder einseitig instrumentalisieren und/oder ihre Existenz problematisieren.
Alle Kinder in Deutschland haben das Recht auf Kinderliteratur, in der sie nicht rassifiziert, als Beiwerk, Problem oder ‘fremd’ dargestellt werden. Kinderbücher, die die BIPoC-Version des Bechdel-Test bestehen.
Alle Kinder in Deutschland haben Kinderliteratur verdient, die sie meint, ermutigt und erfreut. Leider wird noch oft seitens Autor_innen und Verlagen grundsätzlich davon ausgegangen, dass die Bereitschaft, rassismusfrei zu publizieren, auch schon automatisch die Qualifikation hierfür beinhaltet. Das sehe ich anders.
Wichtig ist vor allem die Perspektive.
Wer schreibt aus wessen Perspektive, für wen als Zielgruppe? Hier unsere Erfahrungen zu zentrieren ist – leider – nach wie vor auf dem Mainstream-Kinderbuchmarkt ‚unerhört’ und ausbremsungswürdig. Als würde der Heidi irgendwas weggenommen, wenn die Aissata mal Protagonistin ist in einer Story, die ihr vielfältiges Leben widerspiegelt. Postmigrantische Biografien (auch die von Kindern) sind komplex. Wie Blumenarrangements. Ich muss ein Blumenarrangement nicht vereinfachen indem ich die Orchideen herausrupfe nur weil das Elternteil dem kleinen Malte (6) unterstellt, dass er die nicht versteht. Ich behaupte, dass der Malte das besser versteht als viele Erwachsene. Der Akt des Lernens speist sich doch daraus, etwas nicht zu verstehen. Es folgt dann verstehen wollen -> Antworten suchen -> zuhören -> lernen. Daher ist es an der Sache vobei, wenn Bücher von Verlagen oder Redaktionen wegen ein paar Zeilen außereuropäischem Text oder mehr-als-unterkomplexem multikulturellem Code abgelehnt werden als ‚das überfordert doch’. 1) überfordert wen? 2) mag sein, so lernen Leute was dazu und in 4 Wochen überfordert es sie nicht mehr. Die Periodentafel der Elemente hat viele die ersten Tage auch überfordert (und das viel weniger zugewandt). Da haben die Eltern keine Sprechtags-Intervention/Petition gestartet.
“Überfrachtet” ist ein Kampfbegriff, der gern in der Abwehr von Kunst und Literatur aus vielfältiger, meist intersektionaler Perspektive, bemüht wird. Übersetzt bedeutet es oft im Prinzip: “hier drückt sich sehr unmittelbar eine Lebensrealität aus, die ich nicht nachvollziehen kann, sie scheint komplexer als ich glauben kann (= will), weil das ja hieße, dass ich einigermaßen äh, vereinfacht die Welt wahrnähme und im Vergleich zu anderen gar nicht besonders viel mitbekäme… was schon mal gar nicht sein kann. Und deswegen ist es am besten, wenn ich diese Figur/Story jetzt erstmal direkt vergesse. Bzw eine weiße Autorin damit beauftrage, sowas ähnliches zu schreiben, aber halt ein bisschen vereinfacht, äh, glaubwürdiger”. -> “glaubwürdig” – 1) für wen? 2) Figuren, die weiß und hetero und diacis und nicht behindert und reich und Erbe und symmetrisch und agnostisch und gutaussehend und sportlich und nicht adoptiert und dazu auch noch dünn sind und zwei cis-Elternteile haben und sich inhaltlich nur auf Personen beziehen, die nicht arbeitssuchend sind, werden seltsamerweise nie absurd überfrachtet und karikaturhaft genannt. Im Übrigen ist es völlig schnuppe, wer und was ‚glaubwürdig’ sei oder nicht. Da Literatur und Film u.a. dazu da sind, dass Teddybären, die Barclaygriffith McNamara heißen, auf Drachen reiten (mit denen sich Einige scheints einfacher identifizieren können als mit, zum Beispiel, nichtbinären BIPoC Figuren, die behindert und nicht hauptberuflich Auskunftgeber für die drei Fragezeichen sind), stellt sich die Frage ‚ist es glaubwürdig’ gar nicht wirklich, sondern ist: ein Strohmann. ‚Nicht glaubwürdig’ heißt übersetzt: 1) Nicht klischeehaft genug. Wenn zum Beispiel asiatischstämmige Figuren aus Freising kommen oder Figuren, die José heißen, vegetarisch und schüchtern sind, kann das Menschen mit mangelndem Erfahrungshintergrund, intuitiv als ’nicht stimmig’ vorkommen . 2) “Identifizieren kann ich mich damit nicht, denn ich habe gelernt dass die sich mit mir identifizieren, nicht ich mich mit denen. Die Zielgruppe bin ich! Ausnahmslos! Ich und meine Freund_innen, mit denen ich immer auf die Fusion gehe!”
Der Generationenvertrag gilt immer noch:
Als Autor_innen /Grafiker_innen of Color eine Selbstverpflichtung einzugehen, in der Schaffenslaufbahn zumindest ein Kinderbuch zu fabrizieren.
Da es Print-on-Demand gibt muss kein Verlag gefunden werden. (Kontrolle behalten empowert extra und beugt bösem Erwachen vor.) Ein Lektorat und Qualitätscheck in jeder Hinsicht wäre schon wichtig. Die herkömmlichen bzw Mainstream-Verlage und Agenturen halte ich aber aufgrund fehlender Diversitätskompetenz leider für nicht einschätzungsfähig genug. Im Blogeintrag zu meinem Heimatkrimi habe ich beschrieben, dass eins als Schwarze_r Autor_in anstatt eines professionellen Lektorats auch einfach eine Ladung ungebremste Whitenesspanik bekommen kann. Oder (/und) einfach viel zu viel Unsicherheit. Unsicherheit kann ich aber selber, dafür brauche ich keinen Verlag. Ich bin davon überzeugt, dass sich die nötige Hilfe und Unterstützung dafür dass das Werk gut wird, auch ohne Verlag, von anderer Seite einfinden kann. Aus Netzwerken, unerwarteten Begegnungen, überraschend beantworteten Briefen, bezahlbaren Kollabos… Das ist außerdem erst der zweite oder dritte Schritt, und der darf niemals den ersten verhindern. Der erste, wichtigste Schritt: machen. Was dann Veröffentlichung, Verfügbarkeit und Vertrieb angeht, das ist der einfachste Teil. Bücher on-demand sind online bestens lieferbar und können von fast jeder Buchhandlung bestellt werden wie jedes andere Buch, remittierbar und zeitnah. Und zwar ohne, dass das Autor_in was kosten würde oder Druckkosten vorgestreckt werden müssten. (Bei den Plattformen, die ich kenne, zumindest.) Ich bin davon überzeugt, dass es sehr viele Kinder und Erwachsene gibt, denen das gut tun würde. Ach was, selbst wenn es nur drei Kids wären, statt die Hälfte aller Kids in Deutschland, wäre es das doch trotzdem wert. Die erste Selbsterklärung* gebe ich hiermit gern freiwillig ab. Wer ist dabei?
(* diesmal erweitert um die Deadline: bevor das nächste Jahrzent verstrichen ist.)